Verlangen

 

Aus Sicht des Yoga ist der Mensch an den Kreislauf der Wiedergeburten gebunden. Durch seine Taten, welche nicht selbstlos sind, erzeugt er karmische Verstrickungen, die ihn an weitere Geburten binden. Die Handlungen des Menschen sind selbstbezogen. Dies bedeutet, dass er sich mit seinen Handlungen identifiziert. Wir sagen beispielsweise:

  • „Ich denke an den Urlaub“
  • „Ich baue ein Haus.“
  • „Ich liebe dich.“

 

Jede dieser Handlungen oder Gedanken entsteht aus der Vergangenheit, dem Erlernten. Dies bedeutet, dass es einen Grund gibt, warum wir auf bestimmte Art und Weise denken und handeln. Und auf jede unserer Taten folgt eine Reaktion in Geist, im Körper oder in der Umwelt. Diese führen zu weiteren Handlungen, Karma genannt. 

Das Verlangen entsteht aus einer Wahrnehmung oder Erlebtem heraus. Wir nehmen wahr, dass uns das Eis sehr geschmeckt hat. Dies erzeugte gute Gefühle. Nun kommt es im Alltag manchmal dazu, dass wir uns schlecht fühlen. Daraufhin suchen wir gerne nach Dingen, die uns wieder in gute Stimmung bringen. Da fällt dem Menschen sofort das Eis ein, welches so geschmeckt hat, und wir hätten es gerne, um negative Gefühle zu beseitigen. Dies führt nun zu einem Kreislauf: Jedes Mal, wenn man sich schlecht fühlt, möchte man dann vielleicht etwas Gutes zu essen. Die Folgen sind beispielsweise Übergewicht, Diabetes mellitus, usw. 

Ein anderes Beispiel wäre der Gedanke „Ich bin nicht gut genug.“. Diesen Gedanken erlernte der Mensch in der Kindheit, da alles was er tat niemals ausgereicht hat, um die Liebe und Anerkennung der Eltern zu bekommen. Das Leben hat ihn etwas gelehrt und nun hat es zwei Möglichkeiten. Der Mensch handelt danach, nicht gut zu sein, um sich dies zu bestätigen. Oder er wird in Zukunft zu einem Perfektionisten, um immer gut zu sein, damit andere Menschen ihn anerkennen und lieben. Er hat das Verlangen, immer gut sein zu wollen. In welches Dilemma ihn dies führen wird, kann man sich denken: Müdigkeit, Erschöpfung, Burn out. Nicht gut zu sein veranlasst ihn immer wieder, Dinge zu tun, um seinen Frieden zu finden. Doch er spürt nicht, dass es wie eine Endlosschleife ist, die stets von vorne beginnt. Das Verlangen ist unersättlich und doch findet er keine Ruhe.

Die innere Leere und der mangelnde Frieden führen so den Menschen durch seine erlernten Lebensthemen und -gedanken zu ständigen Taten. Diese wiederholen sich wie Tag und Nacht, ohne ein Ende in Sicht. Besonders in der Suchttherapie und wird dies zu einer schwierigen Aufgabe, denn zu diesem Zeitpunkt haben sich die starken Süchte bereits in die Handlungsstrukturen des Menschen wie eingegraben, ähnlich den Rillen einer Schallplatte.

 

Das Verlangen hat eine Verbindung im Yoga mit den Hindernissen. Die Hindernisse finden wir in den Sutren des Patanjali. Patanjali war ein Yoga-Meister, der den Weg des Yoga aufzeigt und dem Übenden eine Anleitung gibt. Auf seinem Weg begegnet der Yoga-Übende den Hindernissen. 

Kapitel 1, Patanjali Yoga-Sutra, Vers 30:

„Krankheit, Starrheit, Zweifel, Nachlässigkeit, Faulheit, Gier, falsche Anschauung, das Nicht-Erreichen des Grundes, das Nicht-Ausharren, wenn man es einmal erreicht hat – diese sind die Zerstreuungen, die Hindernisse sind.“

 

Aufgrund innerer Mangelzustände wird der Blick des Menschen immer wieder nach außen gezogen. Man sieht andere Menschen, die lachen und fröhlich sind. So hat man das Gefühl, dass sie ihr Leben leben. Sie machen anscheinend was ihnen Spaß macht. Doch der Schein trügt meist. Das Leben ist oft trist und in Routinen gepresst. Deshalb verlangt der Mensch nach Befreiung – in der Regel nach kurzfristiger Befreiung – vom Druck des Lebens und der Welt. Ein Kick in Form von Party und Alkohol, eines coolen Urlaubs oder adrenalinpuschender Aktion wirkt nur für den Moment und verfliegt rasch wieder. So werden diese Dinge wiederholt, wiederholt und wiederholt. Das Verlangen steigt, die Such-t ist da. Dies ist ein ständig drehendes Rad, ein Hamsterrad, eine ständige Suche nach Erfüllung. Das Verlangen steigert sich in die Gier, die immer wieder nach Erfüllung fordert. Es kommt zu einer Trägheit des Menschen. Er kann sich nicht mehr aus diesem Kreislauf befreien und gibt deswegen seinen Wünschen und Begierden nach. Diese Trägheit nennt man im Yoga Tamas.

Die Begierde ist das Bestreben des Menschen, einen inneren Mangelzustand auszugleichen. Dies ist in der materiellen Welt sinnlos, da alles Irdische irgendwann sterben muss oder kaputt geht.

Manche Menschen versuchen, aus dem Leben auszusteigen oder auszuwandern. Doch sie vergessen, dass der Rucksack des Geistes und des Karmas immer auf ihren Rücken dabei ist. Wir können also nicht vor uns selbst davonlaufen.

In diesem Zusammenhang können auch energetische, esoterische und spirituelle Techniken und Verhaltensweisen aus einem Verlangen entstanden sein, welches aus dem Ich entstanden ist. Hier zeigt sich das Verlangen, „esoterisch“ oder „spirituell“ zu sein. Es ist das gleiche Verhalten und Verlangen.

Um das Verlangen ausschalten zu können, ist viel Übung notwendig. Es ist von Vorteil, wenn man seine Gedanken beruhigt und so die Wünsche reduziert. Weiterhin ist es eine gute Übung, Zufriedenheit zu kultivieren. Zufriedenheit vertreibt Gier und Verlangen.

 

Zu guter Letzt führt Verlangen immer zu Leid. Die Leidensursachen nennt man im Sanskrit Kleshas. Klesha bedeutet so viel wie

  • Qual
  • Pein
  • Schmerz
  • Leid
  • Übel
  • Trübsal
  • Plage

 

Diese Plagen treiben den Menschen von seinem wahren Lebensweg zur Einheit mit der Natur und dem Göttlichen Frieden weg. Es gibt fünf Leidensursachen:

  • Unwissenheit, Avidya
  • Ich-Bewusstsein/Ego, Asmita
  • Raga, Zuneigung
  • Dvesha, Abneigung
  • Abhinivesha, Selbsterhaltungstrieb

 

Wir könnten dies auch als KARMA bezeichnen. Diese Ursachen führen uns in stetige Handlungen, welche selbstbezogen sind und so karmische Reaktionen hervorrufen. Das Verlangen entsteht somit aus der Unwissenheit über das Göttliche. So identifiziert sich das Ego mit seinen Gedanken und Handlungen. Zuneigung oder das Verlangen, bestimmte Dinge zu mögen und die Abneigung oder das Verlangen, bestimmte Dinge nicht zu mögen, erzeugen Folgen und ketten den Menschen an den Kreislauf der Wiedergeburten.

Die Leidensursachen sind vergleichbar mit den Trieben: Ich-Bewusstsein – Trieb sein Ich aufrecht zu erhalten, Zuneigung – Sexualtrieb, Abneigung – Hasstrieb, Selbsterhaltungstrieb – Überlebenstrieb.

Gemäß der Yoga-Philosophie können die Plagen durch Übungen beseitigt werden:

  • Tapas, Eigenbemühung
  • Svadhyaya, Studium der Yoga-Schriften / Selbststudium, Selbstreflexion
  • Ishvara-pranidhana, Hingabe an Gott

 

Durch diese drei Handlungen, werden Körper, Geist und Seele gereinigt und von Verlangen befreit. Hierzu ist eine Umkehr aus und vom Leben notwendig. Der Mensch begibt sich auf einen neuen inneren und/oder äußeren Weg. Dieser ist individuell und führt oft auf einsame und steinige Wege des Lebens. Die Umkehr des Lebens zeigt sich auch in gewissen Yoga-Übungen wie

  • Kopfstand
  • Schulterstand/Kerze
  • Uddiyana-Bandha, das Ein- und Hochziehen des Bauches
  • Khecari-Mudra, das Zurückbiegen der Zunge in die Nasenhöhle

 

Nur durch eine Veränderung des Lebens wird das Verlangen reduziert und eventuell nach jahrelanger Übung ausgelöscht.